Donnerstag, 9. August 2018

Der Mensch. Ein soziales Mangelwesen?




[Halle (Saale), Juni 2018]

Zwei denkbar schlechte Handlungsmotivatoren, die Angst und der Mangel, bestimmen, so könnte man meinen, das menschliche Zusammenleben.  Blickt man auf die verschiedensten Arten von sozialen Beziehungsgefügen wird ersichtlich, dass sobald Menschen miteinander sozial in irgendeiner Form interagieren unbewusste Prozesse ablaufen, die diese Interaktionen tragen und aus sich selbst heraus reproduzieren, wenn sie nicht durchbrochen werden. 

Der Mensch als Mangelwesen konstituiert sich aus sich selbst heraus vor allem durch das heutzutage inflationär verwendete Wort des Selbstbewusstseins. Doch scheinbar sind sich die wenigsten homo sapiens tatsächlich ihres Selbst bewusst. Neben dessen Erzeugung durch biochemische Prozesse des Gehirns, reflektiert das Selbst im Alltag vor allem Bedürfnisse, Wertvorstellungen, Ziele und Erwartungen.  Diese Prozesse laufen in jedem menschlichen Gehirn automatisch ab, vor allem dadurch, dass der Mensch neben dem rein biologischen Determinismus ein Sozial- aber vor allem Kulturwesen ist. Soziale Prägungen durch Sozialisation; hauptsächlich aber durch Erziehung bestimmten diese Reflexionsinstanzen des Selbst mit, zumeist ohne bewusst als Filter derer reflektiert zu werden. Treten Menschen nun in soziale Kontakte und Beziehungsgefüge ein,  tragen sie dieses biologische und sozio-kulturelle Erbe mit sich in diese Beziehung und gestalten somit unbewusst, aber aktiv den Verlauf dieser mit. 

Der Kernpunkt bei diesen Interaktionen bildet eben genau dieses Selbst, was sich seiner im besten Falle klar definierten und durchdachten Bedürfnisse und Wertvorstellungen bewusst ist; daher Selbst-Bewusstsein. 
In den wenigsten Fällen sozialer Interkation und Kommunikation ist dieses Ideal verwirklicht. Zumeist ist sich kein oder nur ein Interaktionspartner seines Selbst im Ganzen bewusst. Das heißt nicht etwa, dass dieses Individuum beispielweise keine Bedürfnisse hat und dementsprechend handelt. Jeder Mensch ist im Alltag in Situationen und Interaktionen gefangen, in denen er handeln muss, um zu überleben.  Dieses reine Handeln scheint allerdings an solcher Fülle und an solchem Übermaß gewonnen zu haben, dass das Selbst von sich abgelenkt und in bloßes Handeln im Sinne von Reagieren überführt wird, ohne sich darüber im Klaren zu sein, warum man in welchen Situationen wie handelt bzw. reagiert. 



[Neapel, März 2018]

Dabei konstituiert sich durch dieses unbewusste Handeln ein Selbst, was sich selbst blockiert und entgegenstellt, sich selbst verliert und sich zunehmend immer weniger bewusst ist. Wertvorstellungen, Ziele, Erwartungen aber vor allem die eigenen Bedürfnisse werden in den Nebel von bloßen Wahnvorstellungen getaucht, die zwar unterbewusst präsent sind, aber nicht mehr an die Oberfläche geraten (dürfen). Es erzeugt eine kognitive Dissonanz sich diesen Blockaden unbewusst bewusst zu sein, dieses Bewusstsein aber nicht in Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion zu überführen bzw. überführen zu können. Ein Gefühl der ständigen inneren Unruhe bildet sich, in der das Individuum als Einzelnes einer ständigen Angst vor dem Selbst ausgesetzt ist. Diese Angst wird aber nicht dadurch umgangen, dass man versucht ihrer Ursache auf den Grund zu gehen, sondern im Gegenteil, man tut gerne so, als gäbe es sie nicht und versucht alles Erdenkliche, um sich davon abzuwenden.  Durch das Manifestieren dieser Angst vor dem Selbst, vor den eigenen – oftmals jeglicher Tradition, Konvention und Erziehung zuwiderlaufenden Werten und Bedürfnissen – entsteht über Jahre, oftmals Jahrzehnte ein Mangel, der sich ins Unterbewusstsein einnistet. Der kindliche Kampf um die Wahrung der eigenen gegenüber fremden Bedürfnissen, der Kreation eigener, begründeter Werte und Erwartungen verlagert sich nach Innen. Wo zunächst Außen mit ersten Bezugspersonen verhandelt wurde, verhandelt man nun im Inneren zwischen sozio-kultureller Prägung und der eigenen Natur. 

Mit diesem inneren Konflikt des Selbst mit sich selbst treten wir in Interaktion mit anderen, die ebenfalls diesen inneren Selbstkonflikt mehr oder weniger erfolgreich und bewusst führen. Zumal die meisten Menschen darauf programmiert sind ihre inneren Prozesse zu ignorieren und der Außenwelt die Vorreiterrolle in ihren Leben einräumen. Selbstbewusstsein wird fälschlicherweise oftmals gleichgesetzt mit dem negativ konnotierten Begriff der Selbstbezogenheit, des um-sich-selbst-Kreisens.  

Kommt es nun zu direkten sozialen Interaktionen zweier solcher angstbesetzten Mangelwesen, können diese gar nicht anders als sich in Abhängigkeiten und Machtasymmetrien zu begeben. Das Gegenüber fungiert dann gewissermaßen als Spiegel des eigenen, angstbesetzten und unbewussten Selbst. Die eigenen unbewussten Erwartungen, Wertvorstellungen und Bedürfnissen werden auf das Spiegelbild – den anderen – übertragen.  Anstelle des eigenen Selbst, der eigenen inneren Wahrheit auf den Grund zu gehen suchen wir diese im anderen und erhoffen uns dadurch den ungeschminkten Blick auf uns und vor allem in unser Selbst; das Innenleben mit all seinen Facetten und Erfahrungen.



[Berlin, Mai 2018]


Wir erkennen und erleben uns im angeblich anderen und wenden uns diesem vertrauensvoll zu. Der Denkfehler, dem hier die meisten Menschen zum Opfer fallen ist offensichtlich. Wie sollen wir uns im anderen erkennen, wenn wir unser Selbst nicht kennen? Wie kann man etwas erkennen, dessen Merkmale und Beschaffenheiten man nicht kennt? Für etwas, was im Spiegel erscheint braucht es schließlich ein Etwas, welches sich zu spiegeln bereit ist. 

Dieser Fehlschluss führt in der Konsequenz zum genauen Gegenteil eines sich selbst bewusst Werdens, nämlich zum kompletten Aufgehen des Selbst im Selbst des anderen. Fälschlicherweise wird dieses Selbstaufgehen mit der Kategorie der Verantwortung im Sinne einer Verantwortung, die wir füreinander übernehmen (sollen), gleichgesetzt. Dieses scheinbare Verantwortung füreinander übernehmen führt zumal mehr dazu, dass man an sein Spiegelbild – den anderen – Erwartungen und Bedürfnisse knüpft, die erfüllt werden sollen. Diese Prozesse können also zu nichts anderem als reinem Funktionalismus des anderen durch den anderen führen.  Der sich Spiegelnde erteilt dem Spiegel somit einen Auftrag genau das von ihm gewünschte Spiegelbild zurückzuwerfen, aus dem er sich dann ohne eigenes Zutun selbst erkennen kann. Das Gegenteil von Verantwortung füreinander ist demnach Realität, denn dieser Mechanismus ist nichts anderes als absolute Abgabe jeglicher Selbstverantwortung und somit auch jeglicher potenziellen wahrhaftigen Verantwortung für ein jedes andere. 

Besonders deutlich wird die Wirksamkeit dieser Mechanismen in sozialen Konfliktsituationen – im Kleinen wie im Großen. 
Ein Selbst, welches sich seinem Gehalt nicht bewusst ist und alle unbewussten Werte, Einstellungen, Erwartungen und Wünsche auf sein Spiegelbild überträgt sendet einen Appell an dieses Bild, diesen Erwartungen unbedingt Folge leisten zu müssen. Wir haben bereits den logischen Fehler dieses Mechanismus beschrieben. Wie kann ich einer Bitte nachkommen, deren Inhalt mir nicht bewusst ist bzw. wie kann ich diese als die Bitte des anderen identifizieren, wenn er sich dieser selbst nicht bewusst und dementsprechend auch nicht in der Lage ist, dieser Erwartung Ausdruck zu verleihen? Da der Mensch als Mangelwesen, als Wesen mit mangelndem sich selbst bewusst Sein beschrieben wurde, kann dies nur dazu führen, dass der andere, das Spiegelbild, diesen Mangel scheinbar auszugleichen in der Lage ist. Doch wie kann man etwas ausgleichen, was nicht klar als Mangel bestimmt und kommuniziert worden ist, zumal man sich seiner eigenen Mängel und inneren Kämpfe nicht immer bewusst ist und somit keine klare Abgrenzung zwischen Spiegelbild und des sich Spiegelnden möglich ist? 

Diese Dissonanz ist Ursache nahezu aller Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich in unterschiedlichen sozialen Beziehungskonstellationen. Denn wird dieser interne Mangel, zum Beispiel ein unklares Bedürfnis, ein unklarer Wert angeblich im anderen gefunden und durch ihn gelebt und stellt man dann fest, dass dieses Spiegelbild nicht zu einem selbst passt bzw. auf unerwartete eigene Bedürfnisse und Werte referenziert, verstärkt sich diese Dissonanz und wird zu einer Art Identitätsbedrohung.  



[Berlin, Mai 2018]

Der biologische Determinismus des homo sapiens kennt zwei Reaktionen auf Bedrohung von Außen: Angriff oder Flucht. Angriffe können in einer konkreten sozialen Situation beispielsweise lautstarke Vorwürfe an den anderen sein, die sich bis zu Beleidigungen und Beschimpfungen oder gar körperlichen Angriffen oder psychischem Missbrauch auswachsen können.  Der Spiegel hat einem nun mal nicht das gewünschte Bild vom eigenen Selbst gezeigt und wird somit Angriffspunkt des diesmal körperlich und geistig gefühlten Mangels, der sich zur Identitätskrise ausgewachsen hat, ohne einem klar und deutlich abgrenz- und benennbar bewusst zu sein.  Das heißt man ist sich selbst als Ursache des Problems nicht bewusst und sucht die Schuld stets im anderen. Der unbewusste Wunsch nach Ausleben eines Bedürfnisses oder einer Wertvorstellung kann sich somit in einem direkten Vorwurf an einen Menschen äußern, der eben genau dies tut, nur eben nicht so, wie man es selbst und von sich erwarten würde. 

Die starke Abwehrreaktion ist dann vielmehr eine Art versteckter Wunsch, eben genau dies tun zu können. Sie weist auf das erstmals bewusste, sich aufdrängende Gefühl eines inneren Mangels hin, der nun beinahe schmerzlich und stark bedrohlich empfunden wird. Man erwartet also von seinem Spiegel ein bestimmtes Bild des eigenen Selbst, ohne sich sprichwörtlich dem Spiegel gegenüberzustellen und ist trotzdem unzufrieden, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden. Doch was ich nicht sende, kommt auch nicht an. Wenn ich mich nicht vor den wahrhaftigen Spiegel stelle, brauche ich mich nicht wundern, wenn sich nicht das gewünschte Bild oder gar nichts darin zeigt. 

Kurz: Wer sich selbst nicht kennt und erkennt, wird sich immer den unpassenden, trüben Spiegel suchen und sobald daraus oben beschriebene kognitive Dissonanz erwächst, diesen Spiegel zertrümmern und beschimpfen wollen, anstelle die Ursache – das eigene unbewusste Selbst – sich bewusster zu machen. Dies würde eine Möglichkeit bieten die Machtasymmetrien zu durchbrechen. 


[Berlin, Mai 2018]

Die Lösung der logischen Fehler im (zwischen)menschlich-sozialen Denken wäre also ein sich selbst mehr bewusst Sein. Ein Bewusstsein über die eigenen Bedürfnisse, Werte, Ziele und Erwartungen sowie die eigenen Fähigkeiten. Anstelle blind in die Welt hinaus zu gehen und sich von anderen und anderem zu erhoffen, dass sie einem zeigen wer man ist und was man kann, sich selbst der erste Spiegel sein. Mit sich selbst aushandeln, wie weit man bereit ist für seine eigenen Werte und Überzeugungen zu gehen und zu allererst woher diese Werte und Überzeugungen kommen und inwiefern diese in Übereinstimmung mit der eigenen, ungeschönt wahren Natur sind. 

Nur wenn dies gelingt begibt man sich nicht unbewusst in die oben beschriebenen Machtasymmetrien und Abhängigkeiten, die am Ende jegliche freie und wahrhaftige Entwicklung eines Selbst, welches sich seiner bewusst ist, behindert. Das Selbst konstituiert sich eben nicht in bloßer Interaktion mit anderen und anderem, sondern muss sich vor allem seiner ertragbaren und unverzichtbaren Parameter aus sich selbst heraus erst einmal bewusst werden, um sich bedacht in den Austausch mit anderen und anderem zu begeben, sich dadurch neu verhandelt und abgrenzen zu können, ohne identitätsbedrohenden Schaden zu nehmen. 



[Neapel, März 2018]

Ohne Spiegeln ist der Mensch eben nur ein rein biologischer Haufen Zellen und nützt das ihm eigentümliche Bewusstsein seiner inneren Vorgänge nur unzureichend.  Das bedeutet obwohl das sich seiner selbst bewusst Sein so essentiell für die menschliche Psyche ist, liegen dort und zwar im falschen Gebrauch des sich selbst bewusst Werdens die Ursachen nahezu aller zwischenmenschlichen Probleme im sozialen Bereich.  Ermächtigt man sich durch die Bewusstmachung der Inhalte und Parameter seines eigenen Selbst, kommt es weder zu Konstellationen von unbewussten Machtasymmetrien noch zu scheinbar enttäuschten Erwartungen. Man ermächtigt sich nämlich der Fähigkeit sich die Verhandlungspartner, seine Spiegel gezielt zu wählen, je nachdem welchen Parameter des Selbst man für entwicklungsfähig und diskussionsbedürftig hält. Man weiß dann, was man vom anderen erwarten und bekommen kann und fällt sich blind in das andere, um dann aufgrund eigener unklarer Vorstellungen und Bedürfnisse quasi nur enttäuscht werden zu können. Indem man an das eigene Selbst einen hohen Wahrheitsanspruch stellt, einen Anspruch des sich selbst immer MEHR bewusst Werdens wird man frei von Falschinterpretationen der „Selbste“ von anderen und der Wahl „falscher“ Spiegel. 

Abgrenzung und Distanz können dann ebenso frei gewählt werden, wie Aufmerksamkeit und Hingabe und stellen damit eine reine Bereicherung, ein Potenzial für Wachstum dar und können gar nicht mehr als Identitätsbedrohung wahrgenommen werden. Wenn ich eine bewusste Wahl treffe und mich nicht durch diffuse Gefühle von Angst, die aus einem Mangel an sich selbst bewusst Sein entstehen, leiten lasse, komme ich gar nicht in die Verlegenheit bestehenden Funktionalismen und Machtasymmetrien zu erliegen. 

Ich knüpfe keine unklaren Erwartungen an andere und anderes und kann anderen und anderem offener und authentischer begegnen, ohne sie unbewusst für meine eigene Identität zu funktionalisieren und ihnen die Schuld zu geben, wenn sie mir nicht das gewünschte Bild zurückspiegeln.  Ein selbstermächtigter Mensch ist in der Lage, sich vollkommen hierarchiefrei in soziale Beziehungen aller Art zu begeben und diese in ihrer Eigentümlichkeit aktiv mitzugestalten und wird sich von allem abgestoßen fühlen, was versucht sich seines Selbst durch Mechanismen von Funktionalisierung und Manipulation zu bemächtigen. Kurz von allem, was sich seines Selbst (noch) nicht ermächtigt hat und ihn dazu benutzen will einen internen Mangel auszugleichen, der noch nicht einmal vollends zu Bewusstsein gelangt ist. 



[Neapel, März 2018]

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[Dieser Text entstand im Herbst 2016 nach einem langen Prozess des Beobachters und Nachdenkens über zwischenmenschliche Beziehungen und alles, was darin schief laufen kann.]


Donnerstag, 19. Juli 2018

Rom - nur ungeschminkt?


[Neapel März 2018]

Diesen Eindruck gewann ich im März auf einem Kurzurlaub in Neapel, der Stadt am Fuße des Vesuv. 

Neapel präsentiert sich vollkommen natürlich und unverstellt seinen Besuchern; nichts ist inszeniert und aufgesetzt. Kulissen gibt es wenig und wenn, dann nur am Rande. 






[Neapel März 2018]

Das Zwischenmenschliche, die Interaktion steht im Vordergrund und durchzieht wie ein bunt geflochtenes Band die Stadt.

Neapel macht sich wenig Gedanken um Performance. Dennoch lebt die Stadt durch Aktion.

Gerüche, Geräusche, Gewusel. Alles herrlich ungekünstelt, alt und trotzdem frisch. 






[Neapel März 2018]

Gelebte Geschichte ohne Scheinwerferlicht, das zeichnet Neapel aus.

Es ist am Ende doch wie ein Stück Rom; nur ungeschminkt.
Früh am Morgen sowie am späten Abend.

"Schönheitsfehler" inklusive. 





[Neapel März 2018]

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